"Friede, Fortschritt und Menschenrechte – diese drei Ziele sind unmittelbar miteinander verbunden, keines davon kann erreicht werden, wenn die anderen vernachlässigt werden." Mit diesen Worten beginnt die Friedensnobelpreisrede des sowjetischen Physikers und Menschenrechtlers Andrej Sacharow, die von seiner Frau Jelena Bonner am 11. Dezember 1975 verlesen wurde. Der Hauptgedanke, der Sacharows Rede trägt: Der Zusammenhang zwischen diesen drei Menschheitszielen ist nicht beliebig, sondern es besteht eine kausale Beziehung. Das Primat der Menschenrechte muss garantiert sein, damit sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt und internationale Kooperation erzielt werden können. Putins Russland folgt dieser Logik: Die erneute Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 begann nach einer massiven Repressionswelle gegen Zivilgesellschaft und politische Opposition, die Russland, gemessen an der Menschenrechtslage, wieder in die Zeit vor die Perestrojka versetzt hat. Obwohl der Ausgang noch in weiter Ferne liegt, ist jetzt schon offensichtlich, dass der Krieg die Demodernisierung Russlands massiv beschleunigt und das Land um Jahrzehnte zurückwirft.
Die Regimepersonalisierung, also die stetig zunehmende Entgrenzung der Macht von Russlands autoritärem Führer Wladimir Putin, ist die notwendige Voraussetzung für Russlands Angriffs- (im Sinne der UN-Charta) und Vernichtungskrieg (im Sinne des wahrscheinlichen Genozids an Ukrainerinnen und Ukrainern) gegen die Ukraine. Dies gilt es insbesondere vor dem Hintergrund der Debatte in Deutschland herauszuarbeiten, in der vielerorts noch auf vermeintliche Sicherheitsinteressen Russlands verwiesen wird: Wären diese hinreichend berücksichtigt worden, so hätte der Krieg verhindert werden können. Und weiter noch: Würde Russlands Forderungen nach sicherheitspolitischer Neutralität der Ukraine nachgekommen, könnte zügig ein Friedensabkommen ausgehandelt werden.
Diese Sichtweise ist aus mindestens zweierlei Hinsicht verfehlt: Zum einen hat die Regimepersonalisierung zu einer derartigen Verschiebung der Machtasymmetrie geführt, dass das nationale Interesse vom autoritären Herrscher Putin und dessen Unterstützerkoalition in der Elite gekapert und in deren Partikularinteresse umgedeutet wurde. Dieser innere Zirkel ist durch die fortschreitende Regimepersonalisierung enger geworden, und seine oberste Maxime ist vor allem das politische Überleben an der Macht. Zum anderen ist die Restauration von Russlands Größe durch Resowjetisierung und repressiveres Verhalten im Inneren sowie periodische militärische Eskalation nach außen zum wichtigsten Herrschaftsinstrument geworden, da andere Formen der Legitimierung, allen voran wirtschaftliche Leistung, immer weniger zum Tragen kommen. Auch die Zwangsrussifizierung der besetzten Gebiete in der Ukraine kann nicht mit den Sicherheitsinteressen Russlands erklärt werden, sondern nur mit der imperialen Rassenideologie von Russlands Hardlinern.
Daraus ergeben sich folgende Schlussfolgerungen über die Regimedynamik in Russland: Solange Putin an der Macht ist, wird sich das Regime nach innen und außen weiter radikalisieren, es kann nicht durch ein Friedensabkommen dauerhaft "stillgelegt" und hinter eine bestimmte rote Grenzlinie gedrängt werden. Viel wichtiger noch: Lange war in Deutschland die Meinung verbreitet, dass Putin noch das kleinere Übel sei, weil er Russland immer noch moderater regiert als mögliche kommunistische oder ultranationalistische Alternativen. Von diesem Gedanken müssen wir uns im Zuge des Krieges endgültig verabschieden: Die Beziehungen zu Russland können sich erst wieder in einer Zeit nach Putin auf den Weg der Besserung begeben. Allerdings sollte man auch hier vorsichtigen Pessimismus walten lassen, da mit der Dauer der Kampfhandlungen immer breitere Schichten des russischen Staates an Kriegsverbrechen und Besatzung von ukrainischem Territorium beteiligt sind und generell auf personalistische autoritäre Regime häufig wieder ein autoritäres Regime folgt.
Regimepersonalisierung vor dem Krieg
In der vergleichenden Politikwissenschaft wird Russland als elektorales personalistisches autoritäres Regime eingestuft. Personalistische Regime unterscheiden sich von Einparteienregimen und Militärdiktaturen dadurch, dass der Zugang zu Wahlämtern und Ressourcen, die durch diese Ämter abgeschöpft werden können, primär von einer herrschenden Person abhängig ist. Zentrale Personal- und Politikentscheidungen befinden sich nahezu ausschließlich in der Hand des Autokraten. Elektoral bedeutet, dass das Präsidentenamt und Parlamentsmandate durch Wahlen vergeben werden, die aber nicht nach fairen und freien Bedingungen abgehalten werden.
Regimepersonalisierung ist der Prozess der Machtakkumulation von einem autoritären Herrscher, wobei die relative Macht von anderen Institutionen und Akteuren stetig abnimmt. Für die Vermessung von Regimepersonalisierung gibt es keinen allgemein akzeptierten Katalog von Indikatoren.
Am Vorabend des Krieges bestätigten sich einige zentrale Einsichten über personalistische Regime: Zum einen ist Russland unter Putin durch "schlechte Regierungsführung" – bad governance – gekennzeichnet, die vor allem auf die kleptokratischen Triebe der herrschenden Klasse zurückzuführen sind.
Putins Wille und Russlands Krieg
Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, zeigt, wie hochpersonalisiert das autoritäre Regime in Russland ist. Bei der Sicherheitsratssitzung drei Tage vor der Invasion wurde deutlich, dass selbst dieses Gremium keine Institution mehr ist, die den Präsidenten einhegen könnte. Bei der demonstrativ öffentlich abgehaltenen Sitzung, auf der formal die Anerkennung der selbsterklärten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk – aber eigentlich über den Krieg – entschieden wurde, demütigte Putin einige Mitglieder, andere waren offensichtlich über die Kriegspläne nicht informiert, und Widerspruch war prinzipiell ausgeschlossen, obwohl dennoch eine Fraktion für die Fortsetzung der Verhandlungen mit den USA und der Nato plädierte.
Die Kriegsentscheidung war im kleinsten Kreis gefällt worden, involviert waren Berichten zufolge Verteidigungsminister Sergej Schojgu, Generalstabschef Walerij Gerasimow, FSB-Direktor Alexandr Bortnikow, der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew sowie weitere Putin-Vertraute wie der Direktor der Nationalgarde Wiktor Solotow und der Bankier Jurij Kowaltschuk. Der eigentliche Zweck der Sitzung war somit, jene Elitengruppen, die nicht zum engeren Kriegskabinett gehören, an die Kriegsentscheidung zu binden und mitschuldig zu machen. Dabei wiederholte sich jenes Muster, das schon von der Entscheidung über die Krim-Annexion 2014 überliefert ist: Putin gibt in Absprache mit einigen Militärs, Geheimdienstchefs und Ideologen die politische Richtung vor, dem Technokratenblock der Regierung kommt lediglich die nachgeordnete Rolle zu, die wirtschaftlichen Folgen abzufedern und Russland an die neuen außenpolitischen Rahmenbedingungen anzupassen.
Wann Putin die Kriegsentscheidung getroffen hat und konkrete Vorbereitungen dafür eingeleitet wurden, lässt sich derzeit nicht abschließend sagen. In der Rückschau deutet zumindest einiges darauf hin, dass der Präsident schon frühzeitig Vorkehrungen traf. So kann der Mordversuch an Alexej Nawalnyj im August 2020 auch mit der Absicht verbunden gewesen sein, den einzigen verbliebenen Oppositionspolitiker zu neutralisieren, der noch in der Lage gewesen wäre, massive Antikriegsproteste zu mobilisieren. In diese Reihe gehören ebenso die Militärübungen auf der annektierten Krim und entlang der ukrainischen Grenze im Frühjahr 2021, die Beschränkungen von Getreideexporten seit Sommer 2021, die Nichtauffüllung der von Gazprom geführten Gasspeicher etwa in Deutschland und Österreich oder die zwei an die Nato und die USA gerichteten Vertragsentwürfe über Sicherheitsgarantien, die aufgrund des ultimativen und maximalistischen Charakters von vornherein zum Scheitern verurteilt waren.
Die Kriegsvorbereitungen veranschaulichen aber auch eine weitere Herrschaftstechnik Putins. Im personalistischen Regime gibt es nicht nur eine, sondern viele Machtvertikalen, die nach dem Prinzip der Arbeitsteilung funktionieren: Putin vergibt taktische Aufträge an zuständige Eliteakteure und Behörden, diese führen zwar aus, wissen aber meist über das strategische Ziel nicht Bescheid, das mit den Maßnahmen verbunden ist. Putin agiert als oberster Veto-Spieler nach dem altbekannten Prinzip "teile und herrsche", was ihn vor Angriffen durch Regime-Insider schützt. Diese arbeitsteiligen bürokratischen Hierarchien kooperieren horizontal schlecht, da der Informationsfluss vorwiegend vertikal verläuft, und die gesamtgesellschaftlichen Politikergebnisse sind suboptimal. Nach außen entsteht so der Eindruck einer schlecht regierten "Adhokratie", in der Akteure vor allem ad hoc auf Signale von oben reagieren.
Die auf Insiderquellen beruhende Berichterstattung und die öffentlichen Reaktionen – etwa von einigen Oligarchen, Vertretern des Wirtschaftsblocks der Regierung oder der regimeloyalen Kommunistischen Partei – zeichnen ein eindeutiges Bild: Die Kriegsentscheidung wurde im engsten Kreis um Putin gefällt. Die vergleichende Forschung legt nahe, dass derartige weitreichende Entscheidungen große Risiken für autoritäre Herrscher bergen: Insbesondere wenn Kriege nicht siegreich enden, droht die Gefahr einer Rebellion. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist die Annahme plausibel, dass der Krieg die bisher größte Gefahr für das Putin-Regime bedeutet. Zugleich scheint die öffentliche Debatte im Westen von Wunschdenken getrieben zu sein, dass es zu einem schnellen Kollaps des Putin-Regimes kommen könnte, der wiederum zu einem zügigen Ende des Krieges führen würde.
Elite im U-Boot
Die Loyalität von Eliteakteuren ist auch für das Überleben von stark deinstitutionalisierten personalistischen autoritären Regimen entscheidend. Sie sind für die Regierungsführung unerlässlich, können aber bei Anzeichen von Schwäche entweder einen Staatsstreich anzetteln oder sich massenweise vom Herrscher lossagen und zu einem rivalisierenden Elitenetzwerk überlaufen. Da die Kriegsentscheidung im innersten Kreis um Putin getroffen wurde, ist anzunehmen, dass dies bei vielen Elitekohorten für breiten Unmut sorgte – entweder, weil sie nicht eingebunden waren, oder weil sie dagegen waren. Welche Stimmung tatsächlich in der Elite vorherrscht, lässt sich jedoch nur schwer einschätzen.
Dennoch kann nach über vier Monaten Krieg festgehalten werden, dass sich zwar taktische Differenzen ausmachen lassen – etwa in Bezug auf Verhandlungen mit der Ukraine, der Wirtschaftspolitik oder einer möglichen Generalmobilisierung –, dass aber keine Elitegruppe derzeit an Putin als strategischer Leitfigur rüttelt. Seit Kriegsbeginn lassen sich mehrere Phasen unterscheiden: Der 24. Februar versetzte vor allem die Eliten in der zivilen Bürokratie sowie in den Staats- und privaten Großunternehmen unter Schock, da diese weder das Ausmaß des Krieges jenseits des Donbas noch die Wucht der westlichen Sanktionen vorhergesehen hatten. Ende März wandelte sich jedoch die Stimmung: Ab dieser zweiten Phase scharte sich die Elite um den Präsidenten und konkurrierte vor allem darum, die "besten" Lösungen anzubieten, wie die Sanktionen abzufedern, die eroberten Territorien "einzugliedern" und der Krieg für Russland siegreich zu beenden seien. Allerdings bleibt die Unsicherheit groß, wie die Elite in einer dritten Phase reagieren wird, sobald die sich anbahnende Wirtschaftskrise wirklich spürbar wird. Mit Blick auf Elitendynamiken sind insbesondere drei Aspekte aufschlussreich:
Erstens haben sich im Zuge des Krieges nur wenige Schlüsselakteure von Putin losgesagt, elite defections blieben trotz Unzufriedenheit in der Bürokratie Ausnahmen. Hierzu gehören die Kritik des ehemaligen Vizepremiers Arkadij Dworkowitsch, das Absetzen ins Ausland des langjährigen Putin-Vertrauten Anatolij Tschubajs, der Rücktritt von Jelzins Schwiegersohn Walentin Jumaschew als Präsidentenberater sowie das Ausscheiden des Diplomaten Boris Bondarew aus dem Dienst in der russischen UN-Vertretung in Genf. Der russische Analytiker Andrej Kolesnikow vergleicht den Zustand der föderalen zivilen Bürokratie mit dem von Matrosen in einem U-Boot, das erst verlassen werden kann, wenn der Kommandant den Befehl zum Auftauchen gegeben hat. Putin selbst hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er abweichendes Verhalten als "Nationalverrat" deutet, und hat bereits entsprechend gehandelt: So musste Dworkowitsch von seinem Vorstandsposten beim Moskauer Hochtechnologiepark Skolkowo zurücktreten, und gegen Tschubajs soll ein Strafverfahren eröffnet werden. Wer als privater Unternehmer Putins Kriegsentscheidung kritisiert, riskiert die Enteignung. Umso bemerkenswerter ist, dass sich trotz dieser Risiken einige Oligarchen öffentlich zu Wort gemeldet haben: Wladimir Potanin warnte vor der Nationalisierung von ausländischen Unternehmen, die den russischen Markt verlassen, die Lukoil-Miteigentümer Wagit Alekperow und Leonid Fedun riefen zur raschen Beendigung der Kriegshandlungen auf, und der Miteigentümer und Vorstandschef des Stahlunternehmens NLMK Wladimir Lisin äußerte sogar Verständnis für die westlichen Sanktionen. Derzeit wird vor allem eine weitere Nationalisierung der Eliten sichtbar, die diejenigen noch viel stärker vom Regime abhängig macht, die kein zweites Standbein im Ausland haben. Paradoxerweise kommt dem Wirtschaftsblock der Regierung wieder größere Bedeutung zu, da nur er über die nötige Kompetenz verfügt, um den Sanktionsschock zu dämpfen. Die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina oder der Vorsitzende des Rechnungshofs Alexej Kudrin etwa sprechen von einer schmerzhaften Transformationsperiode von eineinhalb bis zwei Jahren. Allem Anschein nach gehen die Technokraten davon aus, dass sich wie schon nach der Krim-Annexion nach einiger Zeit ein neues Gleichgewicht einstellen wird, das wieder business as usual unter neuen Vorzeichen erlauben wird. Bisher wiederholt sich das Muster von 2014: Auch Russlands Oligarchen sind keine geschlossene Gruppe, sondern vor allem Rivalen, die um Ressourcen konkurrieren. Solange Putin die Sicherheitsorgane kontrolliert, bleiben die Risiken der Kritik an der Ursache der Sanktionen hochriskant, und die Tycoons versuchen jeweils unabhängig voneinander, den Schaden für sich zu begrenzen oder auch neue Chancen bei Verteilungskämpfen zu ergreifen.
Zweitens griff Putin bisher noch nicht auf Säuberungen zurück, was darauf schließen lässt, dass er derzeit keine Gefahr für sich aus der Elite befürchtet. Die ersten Kriegswochen liefen offensichtlich nicht nach Plan, und so entstanden Gerüchte, dass einige Schlüsselakteure, die seit 2014 für die Ukraine-Politik zuständig waren, verhaftet wurden. Hierzu gehören der FSB-General Sergej Beseda, der Putin hauptverantwortlich über die Ukraine informierte, der ehemalige Präsidentenberater Wladislaw Surkow und sein Nachfolger Dmitrij Kosak. Allerdings bestätigte sich bisher keines dieser Gerüchte. Selbst wenn Putin von ihnen systematisch desinformiert worden wäre, was aufgrund der Informationsasymmetrien durchaus ein typisches Charakteristikum von stark personalisierten Regimen ist, würde dies nichts am Hauptziel Putins ändern, die Ukraine als souveränen Staat zu zerstören. Auch die Ernennungs- und Entlassungsmuster in anderen Politikbereichen – etwa die erneute Nominierung der Zentralbankchefin Nabiullina für weitere fünf Jahre, die lang erwartete Neubesetzung des Ministers für Katastrophenschutz oder die planmäßige Rotation von Gouverneuren vor den Regionalwahlen im September – sprechen dafür, dass Putin bisher auf die gewohnte "Stabilität der Kader" setzt.
Drittens hat Putin seine Herrschaft gezielt gegen einen Staatsstreich seitens des Militärs oder der Geheimdienste abgesichert.
Ausbleibende Massenmobilisierung
Nach Bedrohungen aus der Elite können insbesondere gewaltlose Massenproteste autoritären Herrschern gefährlich werden, wobei die Rate der Proteste, die tatsächlich zu einem Regimewechsel geführt haben, in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. Für den Erfolg von Regimewechseln spielen aber insbesondere Spaltungen in der Elite und die Popularitätswerte des autoritären Herrschers die entscheidende Rolle. Von solchen Erscheinungen scheint Putins Russland derzeit noch weit entfernt zu sein. Dennoch wäre es denkbar, dass auch Massenproteste als Katalysator zu Spaltungen beitragen, sodass sich daraufhin Eliteakteure von Putin lossagen.
Auch nach mehreren Monaten hat Russland noch keine Massenproteste gegen den Krieg erlebt. Der Kreml hat die bisher größte Protestbewegung "Für faire Wahlen" der Jahre 2011 bis 2013 mit Repressionen bekämpft, und die Annexion der Krim 2014 hat verdeutlicht, dass in der heterogenen Antiregierungskoalition viele die Ukraine-Politik Putins befürworteten. In Putins vierter Amtszeit seit 2018 sind es lediglich noch die außerparlamentarische Partei Jabloko und mit Einschränkungen Alexej Nawalnyj, die die Krim-Annexion und Besetzung des Donbas kritisieren. Jabloko ist jedoch marginalisiert und lehnt Straßenproteste ab. Und mit der Verhaftung Nawalnyjs im Januar 2021 sowie der Zerstörung seiner Stiftung und ihres weitläufigen regionalen Netzwerks mithilfe der Ausländische-Agenten- und Extremismusgesetzgebung war die letzte Organisationsstruktur neutralisiert, die zahlenmäßig relevante Antikriegsproteste hätte organisieren können. Dennoch wurden bei Antikriegsdemonstrationen in mehr als 100 russischen Städten über 16000 Personen festgenommen, was von erheblichem Protestpotenzial zeugt. Das Regime hat darauf gezielt reagiert: In den ersten Kriegsmonaten wurden 181 Medien blockiert, 150 Strafverfahren eröffnet, 2100 Personen für die "Diskriminierung" der Armee mit hohen Geldstrafen belegt und knapp 60 neue "ausländische Agenten" erklärt. Geschätzte 300000 bis 400000 Russinnen und Russen haben das Land seit Kriegsbeginn verlassen.
In vergleichender Perspektive muss indes festgestellt werden, dass das Repressionsniveau in Russland noch verhältnismäßig niedrig ist und bei einer neuen Protestwelle deutlich verschärft werden könnte. Bisher erfüllt der Krieg gegen die Ukraine wie schon die Krim-Annexion eine innenpolitische Funktion: Putins Popularitätswerte sind erneut in die Höhe geschnellt, und knapp 80 Prozent der Befragten unterstützen laut dem unabhängigen Lewada-Zentrum "die Aktivitäten der russischen Streitkräfte in der Ukraine". 72 Prozent wollen Putin 2024 wieder auf dem Präsidentenposten sehen, im September 2021 waren es nur 47 Prozent.
Für den Kreml stellt sich die Frage, wie lange die hohen Zustimmungswerte anhalten werden. Vor diesem Hintergrund sollte auch die derzeitige Debatte gesehen werden, ob sich Russland weg von einem eher typischen personalistischen Regime hin zu einem Regime mit faschistischen und totalitären Zügen entwickelt.
Vom Macho zum "Bunker-Opa"
Vergleichende Studien zeigen, dass Herrscher in personalistischen Regimen häufig bis zur Handlungsunfähigkeit oder dem natürlichen Tod an der Macht bleiben. Je länger die Herrschaft andauert, desto mehr verschmilzt das Regime mit der Person des Autokraten, dessen physischer Körper damit zunehmend zu einem Objekt nationaler Sicherheit wird. Herrscher in personalistischen Regimen genießen meist keinen ruhigen Lebensabend, ihnen drohen Exil, Gefängnis oder auch ein gewaltsamer Tod.
Seit 2012 häufen sich Berichte, dass Putin an verschiedenen Krankheiten leide. Bis auf zeitweise Rückenprobleme hat der Kreml nie etwas davon bestätigt. Dennoch wird er unter russischen Jugendlichen bisweilen schon als bunkernyj ded ("Bunker-Opa") verlacht. Die bisher plausibelste Ferndiagnose stellte im April 2022 das Journalistenkollektiv Proekt, das anhand von Dokumenten nahelegt, dass Putin an Schilddrüsenkrebs leidet. Diese Art von Krebs würde zwar die äußerliche Veränderung Putins erklären und seinen Lebenswandel einschränken, nicht aber den unmittelbaren Rücktritt bedeuten. Ein krankheitsbedingtes Ausscheiden aus dem Amt oder ein vorzeitiger Tod würde das Ende des personalistischen Regimes einläuten, jedoch kein Gelegenheitsfenster für die Demokratisierung Russlands bieten. Die Beispiele Usbekistan und Turkmenistan haben gezeigt, dass sich die Elite in solche Fällen recht zügig über die Nachfolge einigen kann. Im Todesfall würde Premierminister Michail Mischustin kommissarisch das Präsidentenamt übernehmen, und selbst wenn die in der Verfassung festgelegte Reihenfolge nicht eingehalten würde, wäre eine Destabilisierung unwahrscheinlich. Insgesamt bleibt somit festzuhalten, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein autoritäres Regime folgt.
Putin stellt sich offensichtlich auf eine lange Konfrontation ein und richtet ganz Russland darauf aus. In personalistischen Regimen kann der "Herbst des Patriarchen" allerdings sehr schnell zu Ende gehen: Was in einem Augenblick noch als Stärke und Stabilität erscheint, zeugt im nächsten Moment vor allem von Schwäche.